Karl Günther Hufnagel
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Kapitel 7, Seite 26 - 30
Ich habe meine Augen herausgenommen. Zunächst sind sie über die Tischplatte gerollt, nun liegen sie still und blicken aufeinander. Ich habe die künstlichen ohne Schwierigkeit in die Höhlen gesetzt. Mit ihnen beobachte ich, sie sind dazu geeignet. Die natürlichen sind verletzlich, Unreinheit setzt ihnen zu, der bloße Anblick von Staub kann ihnen lästig werden, obwohl sie härter sind als jene, die ich jetzt und nach Möglichkeit immer benutze. Gleichsam aus Glas sind sie, als wären sie die falschen, schlecht gebaute Prothesen, die jeder Anblick beschlägt bis zur Blindheit. Ihrer Untauglichkeit wegen habe ich mir andere besorgen müssen, deren Legierung ich selbst bestimmt habe. Sie sind weich, nachgiebig und, treffen Gegenstände auf sie, von einer praktischen Saugfähigkeit. Sie behalten zurück, was ich mir von ihnen erwünsche, zu bewahren nahe am Gehirn, bis sie müde und zu trocken werden. Dann tausche ich sie gegen die angestammten, gönne mir ein wenig Pause, erhole mich in der Erinnerung. Das sind alte, traurige Augen, so wirken sie auf mich, an denen ich hänge, die ich nicht verlieren möchte. Der Rest von einem Einst. Ich bin stolz, entdecke ich sie da vor mir auf dem Tisch, dünkt mich doch, sie blinkten, als hätte meine Mutter sie gestern erst geputzt, zärtlich angehaucht und poliert. Sie war eine fromme Frau und hat viel Hoffnung in mich gesetzt. Ich habe sie nicht enttäuscht, denn ich verdiene mein Geld. Sie hat mich klar sehen gelehrt, mich darauf verwiesen, wo die Dinge auf ihrem Platz stehen. So habe ich meinen Anfang genommen.
Dennoch überkommt mich Wehmut, denke ich an meine Geburt. Die Augen da vor mir verändern sich zu fremden, und ich wäre froh, würden sie das Licht nie gesehen haben, wären sie zurückgeblieben im dunklen Leib, um mit meiner Mutter zugleich nach Segenssprüchen verbrannt zu werden. Denn trotz ihrer Mühe haben sie sich nicht bewährt und mußten ausgewechselt werden. Ich gebe nicht meiner Erziehung die Schuld an der frühen Misere. Ich habe gelernt, ich bin der dankbare Sohn, nur zu vielen, so daß ich mir später Mühe geben müßte bei der Auswahl. Mit dem neuen Paar sehe ich endlich, was zu sehen mir taugt, nicht mehr und glücklicherweise nicht weniger als zu verwenden ist. Aber gerne spiele ich mit den alten, lasse sie aneinanderklicken, wieder auseinanderrollen bis zur gefährlichen Nähe der Tischkante. Vielleicht versäume ich mal, auf diese Augen, die nun Kugeln sind wie andere, zu achten. Sie würden hinunterfallen, es könnte passieren, daß ich darauf trete. Dann wäre ich sie los. Die Fürsorge und die Obhut, die mir und meinen Augen angetan worden sind, behindern mich eher. Ihre Ergebnisse habe ich auszumerzen, erst dann kann ich sagen: ich stehe meinen Mann.
Ich gehöre dazu, ich atme die Luft meiner nächsten, nenne den Geruch bekömmlich, den Schweiß unter den Achselhöhlen, die Schuhcreme und das Mottenpulver. Den Bierdampf aus den Mäulern sauge ich ein, hebe das Glas mit Fusel und mähe das Gras im Vorgarten, bevor ich mich dazusetze unter den Sonnenschirm, den Kuchen zu loben.
Das linke Auge ist vom rechten nicht zu unterscheiden. Das ist nicht egal, wenn ich wieder wechseln will. Sie dürfen nicht durcheinander geraten, sonst sähe ich auch die Seiten der Gegenstände vertauscht. Das natürliche Auge ist von der Gewöhnung in der Kindheit genormt. Gerade halte ich das rechte zwischen Daumen und Zeigefinger, finde wieder keinen Gefallen an seiner Farblosigkeit. Das schimmernde Grau dürfte Ergebnis häufiger Reinigung sein, als hätte jemand von früh an sich bemüht, das Blau, von dem ich durch Erzählung weiß, abzuscheuern. Oder sein Ausdruck hat durch eigenes Verschulden gelitten. Durch den Suff oder schlicht durch Abnutzung bei zu häufigem Gebrauch nach dem Verlust der emotionalen Erregung. Mein bemüht objektiver Blick begegnet keiner Person, sondern bewegt sich mit ihr gleichzeitig, als schaute nicht ich, vielmehr jeder. Ich habe mein Schicksal gewählt, mir ist gelungen, allgemein zu werden. Bin mich los, laufe, ohne Neugierde zu erregen, durch die Straßen. Eine falsche Annahme, denn nun hat sich der Anschlag ereignet. Ich will jedoch nicht erinnert werden, habe keine Lust, meine Zufriedenheit zu beeinträchtigen, ich rätsele nur über dem Auge, als wäre an diesem intimen Körperteil eine Veränderung festzustellen, die neue Auffälligkeit.
Ich entdecke nichts, nur den Glanz der alten Frömmigkeit, die mir geblieben ist als Glaube. Eine hilfreiche Konstruktion, die sich im Leben bewährt hat. Ich bin fraglos, spüre die Gewißheit, einem vertrauten Zusammenhang zuzugehören. Mich überrumpelt nichts, Vertrauen kann auf Bewußtsein verzichten, ich bin Spitze.
Meine Mutter hat mir mitgegeben, was ich brauche. Ich gehe an ihrer Hand. Sie zeigt mir den wunderschönen Mai. Wir haben das Dorf hinter uns gelassen, auf der Allee zwischen den in regelmäßigem Abstand gepflanzten Apfelbäumen, unansehnlichen, schon knochigen Gebilden, die bereits im Sommer ihre kleinen grünen Früchte abwerfen werden, auf die meine Mutter sich freut und sonst niemand. Ich behaupte, mit ihr allein zu gehen, erwachsen genug, den Schritt zu halten. Ich mag keinen anderen in der Nähe haben, ein Fuhrwerk würde stören, ein Auto, ein Radfahrer. Sie und ich, der sprießende Roggen, der Hafer, gelegentlich ein Kleeacker. Ich will das so haben, daß es in der Gegend Pferde gibt, und hoch droben beobachte ich die Schwalben.
Du bist ein lieber Junge, sagt meine Mutter, um dich brauch ich mir keine Sorgen zu machen. Du läßt mir die Zeit, an mich selber zu denken. Ich habe viel aus deinem Vater gemacht. Seit er tot ist, fehlt mir etwas.
Nach ihrem Geschmack bräunt ihre Haut zu schnell, deshalb schützt sie sich vor der Sonne durch Handschuhe und einen Strohhut mit breiter Krempe. Ich bilde mir ziemlich was ein auf sie. Schaue ich die übrigen Frauen an, möchte ich sie am liebsten nicht für eine Frau halten, sie nicht vergleichen. Aber eine Frau ist sie. Jeweils am Sonntag abend, ehe wir einschlafen, läßt sie mich an ihrer Brust saugen, bis ich mich müde und satt zur Seite wälze. In ihrer Weise bedeutet sie mir, wie sie mich groß gebracht hat. Ich muß noch immer nicht einsam sein, darf mir's rundum wohlsein lassen, während sie auf mich herablächelt, die Finger locker in meinem Haar, ich böse überlege, ob ich nicht zubeißen soll wie ein wirkliches wildes Baby. Dann würde ich die blutige Brustwarze ausspucken, und meine Mutter würde aufschreien vor Vergnügen, doch nie wieder versuchen, mich zu säugen.
Ich habe schon für deinen Vater alles getan, sagt sie, er war ein so feiner Mann.