Karl Günther Hufnagel

 

 

 


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Seite 6

Während meiner Tätigkeit im Landeskrankenhaus bin ich unter meinen Patienten einem Mann begegnet, dessen Krankheitsbild mir und den Kollegen Rätsel aufgab. Wir kamen zu dem Entschluß, es unter uns das "Zombie-Syndrom" zu nennen. Diese Metapher sollte mr beim Zugang zu meinem Patienten hilfreich werden, er wurde mein Lieblingspatient. Obwohl er sich über seinen Zustand im klaren schien, verstand er es, sein letztes Geheimnis vor mir und vielleicht vor sich selbst zu verbergen. Er konnte mit Worten umgehen, auch einer deutlichen Stellungnahme ausweichen. Die Zeit seiner Therapie verbrachte er nächtelang mit Schreiben.
Nachdem es mir gelungen ist, seine Bekenntnisse an mich zu bringen, halte ich es für meine Pflicht, sie allgemein zugänglich zu machen. Mögen Sie darüber urteilen, ob ein krankes Hirn diese Aufzeichnungen diktiert hat. Oder ob mein Patient trotz seiner psychischen Auffälligkeit Ihr Interesse verdient, uns Einblick gewährt in eigene Abgründe. Lesen Sie.



Erstes Kapitel , Seite 7 - 10
So weit ich mich erinnere, habe ich immer auf Hitlers Schulter gesessen. Jahrzehnte in jedem Fall. Wenn der den Arm hebt zu seinem Gruß, küsse ich die Hand. Ich schmecke das Blut. Mein Zustand ist der Rausch. Der reicht bis zum Himmel wie nur je eine Morgenröte. Die Stunde Mittag würde sich nicht ereignen. Die Zeit ist angehalten. Der Rausch steht in roten Wolken, unbeweglich, keinerlei Wind treibt sie weiter, gleich würden sie sich öffnen und die Stadt einfärben bis tief unters Pflaster. Der Himmel hat sich geöffnet, dem Rausch aufgetan bis dorthin, wo die Krähen fliegen und die Wohnküchen sich aneinanderreihen wie Puppenstuben in der Auslage eines Kaufhauses. Dort sind die Leichen gestapelt. Sie sitzen dazwischen, um zu frühstücken, Hans, der Vater, Gretel, die Mutter, mit Fritz und Anna, den Kindern.

Sie trinken Kaffee und heiße Milch, Orangensaft, essen Brötchen mit Butter und Marmelade.
Ich habe einen schweren Tag heute, sagt Hans.
Und Gretel: Ich geh zu Woolworth, neue Gläser kaufen.
Hans sagt: Fang nicht wieder an.
Gretel: Ich habe nichts gesagt.
Hans hat schon die Krawatte umgebunden, Gretel sitzt im weißen, schenkelkurzen Bademantel, hat die Beine übereinandergeschlagen, zeigt die Knie und ist barfuß, die Kinder haben noch die Schlafanzüge an, kauen ihr Müsli, sie sind sieben und acht Jahre alt.

Geht ins Bad, sagt Gretel. Und als die Kinder draußen sind, fährt sie fort:
Der Suff zerstört unsere Ehe.
Hans antwortet: Ich muß los.
Hans hat schon bessere Tage gesehen. Gar keine, denn damals hat er nicht darauf geachtet. Er hat gearbeitet, gegessen, geschlafen, gevögelt und getrunken, seine Tage sind einer wie der andere gewesen, so normal, daß sie keinem aufgefallen sind, gerade ihm selber nicht. Manchmal lächelt er am Morgen noch wie am vergangenen Abend, wären Jalousien vor den Fenstern, er hätte sich um nichts mehr zu kümmern brauchen, nicht um das Sonnenlicht, nur um sein Wohlbefinden, in dem Gretel eine wichtige Rolle zukommt. Freilich nimmt sein Interesse an ihr ab, so daß Langeweile ihn traurig stimmt. Er ist Buchvertreter, deshalb hat er die Regale, und da die Leichen hineingeräumt.

Hans sagt: Meine Arbeit ist wichtig.
Ich habe nichts gesagt, antwortet Gretel.
Nie sagt Gretel etwas, nur: Ich habe nichts gesagt, womit sie meint, sie beschwere sich nicht. Hans hört es so, und beinahe hätte er ihr eine gescheuert. Das passiert gelegentlich, aber Gretel stört sich nicht daran, mit der Liebe klappt es danach. Heute beherrscht sich Hans, den Gefallen will er ihr nicht tun. Auch kommen die Kinder zurück, zerren die Riemen der Schulranzen über die Schultern, Gretel drückt ihnen Geld in die Hand, das sie aus der Tasche des Bademantels gezogen hat.
Kauft euch was in der Pause.
Au fein, rufen die Kinder und trotten sich endlich.
Schmierst du ihnen keine Brote mehr? bemerkt Hans.
Warum machst du's nicht, antwortet Gretel.
Ich habe nichts gesagt, höhnt Hans, und weiter: Ich habe nichts zu sagen.
Du wolltest es nicht anders.
Ich bin nicht der, von dem du geträumt hast.
Ich habe nichts gesagt. Willst du noch ein Ei?
Ich hab's eilig.
Er rührt sich aber nicht von seinem Stuhl.
Ich könnte wieder arbeiten, schlägt Gretel vor.
Das haben wir nicht nötig.
Gretel lächelt: Du hast die Herausforderung angenommen.

Hans sitzt häufig einfach da, Gretel anzuschauen. Ihn irritiert, daß er sie nicht für schön hält. Doch das steigert sein Verlangen. Gretels obere Schneidezähne sind immer zu sehen und die flachsblonden, langen Haare selten frisiert, einfach nach hinten gekämmt und am Nacken zusammengebunden. Solange er sie betrachtet, wundert er sich allein über sich.
Du bist häßlich, sagt er.
Ich weiß.
Warum tust du nichts dagegen?
Bin ich blöd?
Gretel weiß, daß sie wie sie ist, attraktiv wirkt. Hans ist nicht der einzige, den sie verwirrt durch Nachlässigkeit und Selbstbewußtsein. Sie hat Qualitäten, die will sie nicht wegschminken, um auszusehen wie jede andere. Ihr Körper ist trotz der Geburten makellos, Beine, Busen, der Bauch, die Schultern, ihr Rücken. Wenn sie nackt ist, erregt der Gegensatz zum Gesicht. Sie ist nicht leicht zufriedenzustellen und schaut selbst nicht genauer hin, wenn stimmt, worauf es ihr ankommt. Und mit Hans ist sie soweit zufrieden, daß sie ihn bereits als öde wahrnimmt und Ausschau hält nach einer Abwechslung. Das ist ihm nicht entgangen, aber solange es läuft zwischen ihnen, ist er zu bequem, sich um eine Nachfolgerin zu kümmern. Er hat Geld zu verdienen. Zuhause beruhigt er sich mit Gretel, allerdings schon schneller, als es ihm zur der Versöhnung mit der Welt recht sein kann. Er lebt in geordneten Verhältnissen, und die Kinder kommen leidlich mit in der Schule.