Karl Günther Hufnagel
Start
Bücher
Bibliographie
Über KGH
Vita
Links
Der Tagesspiegel, 29.5.1961
Die Gleichgültigen. Die Parasiten-Provinz
von Günther Busch
Dieser Roman hat zum Thema den Leerlauf einer Welt, in der alles gleich gültig und daher gleichgültig ist: Ja sagen und Nein sagen, dasselbe wie andere tun oder nicht das selbe wie andere tun, mit halbwüchsigen Mädchen sich vergnügen oder Bücher lesen, Geld verdienen oder Verdienste sich erwerben, reden oder schweigen. Offenbar gibt die Welt, in der wir stehen, nicht mehr her, als unsere Vorstellung von ihr schon hat.
Hufnagels Buch ist das Dokument dieses Zustands, ein Dokument auch insofern, als es sich jeder Deutung der Malaise enthält. Es lädt uns ein, die Jahrmarktsbude der Epoche zu betreten; dort läßt es uns vor den Spiegeln mit unseren eigenen Attraktionen und mit unserem Unbehagen allein. Man könnte sagen, Hufnagel habe die Geschichte einer Gesellschaftserkrankung geschrieben, ließe er sich auch nur ein einziges Mal anmerken, dass er von Deformation und Erkrankung spricht. Statt dessen befleißigt er sich einer gewissen Teilnahmslosigkeit, schildert er das Verhaltensmodell unserer Jahre aus der Perspektive des Chronisten. Ein literarisches Protokoll? Ja, und doch auch mehr. Wie unmittelbar der Autor mit dem Thema, das er behandelt, verkettet ist, zeigt er nicht durch Emphase, sondern durch ein Kompositionsprinzip. Er arbeitet mit einem Typus. Und diesen Typus läßt er erzählen. Die Parasiten-Provinz, in der Ich-Form entdeckt und geschildert, ist Ausdruck einer Welt, in der das Ich Parasit seiner selbst geworden ist.
Der junge Mann, dessen Erlebnisse Hufnagel berichtet, dieses makabre Beispiel einer Menschengestalt, in der sich das Leben gewissermaßen mumifiziert, in der die Spannungen zwischen Bewußtsein und Wirklichkeit erloschen sind, ist, genau besehen, eine apokalyptische Figur: ihn hat das Leben gelähmt, er gewinnt kein Verhältnis mehr zu seinen Mitmenschen, geht allen Bindungen aus dem Wege. Gerade noch, daß er einem Broterwerb nachgeht. Entschlossen, sich vom Augenblick verführen zu lassen, wo immer der Augenblick lockt, hat dieser junge Mann, ein Mensch auf Bestellung und ein Barbar auf Abruf, das Gesetz der Entscheidung suspendiert. Er ist für alles zu haben - für einen Ehebruch, für dunkle Zwischenträgerverdienste in Geschäftsangelegenheit -, vorausgesetzt, daß damit kein Engagement verquickt ist. Vorausgesetzt, daß alles so weitergeht. Und noch seine Verlobung erduldet er gleichmütig, gesenkten Hauptes, als einen Schicksalspruch, auf den zu reagieren es sich nicht lohnt.
Hufnagels Roman ist ein gespenstisches Menetekel an der Kalkwand unserer Tage. Er ist gespenstisch, weil er gespenstische Möglichkeiten menschlichen Verhaltens (und Nicht-Verhaltens) in der Sprache eines Polizei-Rapports anzeigt. Die Erschütterung über das, was er beschreibt und was wieder eintreten kann, weil es schon einmal eingetreten ist, wird von der Nüchternheit des Stils, der sich keinerlei romantische Abschweifungen gestattet, nahezu völlig verdeckt. Wie ein Mantel liegen die Sätze über der Agonie dieser Menschen, die hier dargestellt sind. Sie dämpfen die Seufzer, aber das Grauen dämpfen sie nicht.
RIAS Berlin - Kulturelles Wort. Literatur, 8. 2. 1963
Die Parasiten-Provinz
von Peter Hamm
Warum der Roman "Die Parasiten-Provinz" nicht in den Mittelpunkt unserer bundesdeutschen literarischen Diskussion rückte, läßt sich nur mit der beginnenden Uniformität des literarischen Bewusstseins in der Bundesrepublik erklären. Denn zweifelsohne ist dieser ausgesprochene Gesellschaftsroman ein bedeutendes Werk, das Vergleiche mit ähnlich gearteten Creationen von Martin Walser und Heinrich Böll nicht zu scheuen braucht. Allerdings ist die "Parasiten-Provinz" genau in dem Maße intensivere Gesellschaftsanalyse als beispielsweise Walsers "Halbzeit", in dem sie formal weniger attraktiv ist als diese. Was einmal ein Leser über eine Erzählung Hufnagels schrieb, gilt auch für diesen Erstlingsroman: das Bedeutende an ihm ist, dass eine extrem moderne Stimmung 'verständlich' ausgedrückt wird. Anders formuliert: Hufnagel beschreibt Menschen, die existentialistisch leben (ohne es freilich zu wissen), aber er beschreibt sie eben nicht aus der Perspektive des vulgären Vereins-Existentialisten, sondern er gibt sich - hierin ganz ähnlich wie Max Frisch - selbst mit auf, er weiß es als Autor auch nicht besser als seine Figuren, er kann sie deswegen auch nicht verurteilen, sondern er empfindet Mitleid mit ihnen, mindestens soviel Mitleid wie er mit sich selbst empfindet. Hufnagels Stärke sind genaue Beobachtung, Detailkenntnis und Detailbesessenheit.
Wie die Autoren des "nouveau roman" registriert er die winzigsten, unscheinbarsten Bewegungen, die 'Tropismen', um mit Nathalie Sarraute zu reden, verfällt aber nie - wie jene in den Fehler, diese Bewegungen absolut zu setzen, d.h. den Menschen - und damit Ursache und Wirkung - zu vergessen. Die Menschen der "Parasiten-Provinz" demonstrieren ihren Warencharakter (Warencharakter nicht nur der Menschen in der kapitalistischen, sondern in der modernen Industriewelt schlechthin) augenfällig und unwiderlegbar: diese Figuren stellen sich auf jede Gelegenheit ein, passen sich stets den Verhältnissen an und sind stets allesamt 'Opfer der Verhältnisse'. Wir erleben die moderne Geschäftswelt, in der nur der bestehen kann, der sich durchsetzt, der härter ist als sein jeweiliges Gegenüber, eine Welt, in der alle 'hinauf' wollen - und niemand 'hinunter', eine tollwütige Welt, und doch unsere alltägliche, ganz normale Welt. Hufnagel spiegelt ihre "existentielle Monotonie" in den mehr oder weniger belanglosen und total austauschbaren Liebschaften eines jungen Mannes, der in dieser Welt der Parasiten nicht mitspielen will, kein Parasit sein will, und der dennoch genauso wie jeder andere mitspielt: sein Traum vom Ausbrechen ist pure Selbstlüge. Frauen der verschiedensten sozialen Schichten sind ihm die Leiter des sozialen Aufstiegs, eines ganz und gar erbarmungslosen Aufstiegs, der die Schlagworte vom "sozialen Fortschritt" und gar von der "Sozialpartnerschaft" schrecklich Lügen straft. Hufnagel hat überdies einen untrüglichen Blick für die am Weg Zurückgebliebenen, Abgefallenen, für die stets Zukurzgekommenen, die schließlich Ausgestoßenen, s i e drängen immer wieder gleichsam von den Rändern her in diesen Roman hinein und lassen den Leser buchstäblich erzittern. Hufnagel kennt ja nicht - wie etwa Böll - metaphysischen Trost, oder - wie etwa Uwe Johnson - politischen. Entweder ändert sich nie etwas, oder es muss sich hier und jetzt etwas ändern das ist Hufnagels 'Weltanschauung'. Und wenn sich schließlich etwas zu ändern anschickt, wenn wider alles Erwarten Klara Schurik, die Frau des Großindustriellen, aus ihrer furchtbaren Familiengeborgenheit ausbricht - also das unternimmt, was der junge Ich-Erzähler bloß immer propagiert aber nie gewagt hat -, und wenn sie mit ihrer vierjährigen Tochter zu ihm zieht, in die Trostlosigkeit eines Absteigequartiers, das Leben mit ihm teilen will, weil sie seiner Liebe vertraut, ja, dann entlarvt sich im selben Augenblick jenes als Liebe ausgegebene Gefühl als bloßes Mittel zum Zweck, als Mittel zum Fortkommen, als existentieller Automatismus, banal und ungeheuer. Und doch endet Hufnagels Buch mit einem winzigen Hoffnungsstrahl, wenn nämlich sein allem bloß Positivem wie bloß Negativem gleich weit entfernter 'Held' die Verantwortung für das Kind übernimmt, das noch gesichtslose, gleich unschuldige wie verantwortungsbare Wesen.