Karl Günther Hufnagel

 

 

 


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tip magazin Nr. 1/1980Verlag Neue Kritik, 2003; LESE-STOFF
Der dunkle Ort
von Jörg Fauser

Wenn einer anfängt zu schreiben, will er immer mit den Sätzen das Blau des Himmels runterholen. Er will den Kadaver unter den Rosen und im selben Absatz auch noch den Schatten des Pumas beim Sprung, und dann schon Liebe; wenn einer anfängt zu schreiben, will er alle Grenzen überschreiten und durch alle Tore, die zum Leben führen. Und er weiß noch nicht, daß er dafür bezahlen muß. Mit sich selbst. Mit Scham. Mit Fremde. Faulkner: "Wenn es mir beim Schreiben helfen würde, würde ich meine Großmutter bestehlen." Artaud: "Alles Geschriebene ist Sauerei." Benn: "Ist Ausdruck Schuld? Er könnte es sein."
Die Maßlosigkeit zerreibt sich natürlich bald an den Mühen des Handwerks und an den Peinlichkeiten des Betriebs, in den zwangsläufig gerät, wer sein Talent zu Markte trägt. Und doch muß sie sich immer wieder erneuern, soll das Ziel ernsthafter Literatur nicht verfehlt werden, das Witold Gombrowicz auf die Formel gebracht hat: "Ernste Literatur ist nicht dazu da, das Leben zu erleichtern, sondern es zu erschweren."
Sich und anderen es immer wieder schwer zu machen, ja uns zu verletzen, damit wir uns nicht mit dem Leben abfinden, wie es uns vorgeschrieben ist von allen Institutionen und von der unerschütterlichsten Institution, der Natur, das ist das Blau des Himmels. Das ist die einzige Moral, die den Schreibenden lenkt. Hart zu bleiben und ernst zu bleiben, wie schwer kommt es manchmal an, wenn doch alles in uns dazu drängt, uns anzuschmiegen an tausend und eine Verführungen, es uns heimisch und gemütlich zu machen, da von allen Seiten die Verführer locken: Komm, wir salben deine Wunden mit Sozialversicherung, und deine Schuld lösen wir aus mit Persilscheinen, und deine Alpträume senden wir im Dritten Programm, und siehe, wir versöhnen dich durch Eigentum und Vernunft mit deiner eigenen Sauerei.
Als ich anfing zu schreiben, wollte die deutsche Literatur noch vernünftiger sein, als sie es schon gewesen war. Sie ging daran, die Welt zu verbessern. Damals gab es für mich keinen einzigen interessanten deutschschreibenden Autor. Sie waren alle unglaublich optimistisch, penetrant wohlmeinend, und außerordentlich rührig um ihren Betrieb bemüht. Mit meiner Art zu leben, und so ähnlich lebten damals nicht wenige, hatten sie und ihre Produktionen nicht sehr viel zu tun. Unser Lebensgefühl war von Amerika geprägt, ohne daß wir je dort gewesen waren oder hin wollten. Aber wir lebten in einer amerikanischen Provinz. Das Deutschland, das die Literaten beschrieben, war nicht unser Land. Ich erkannte mich nicht darin. Ich erkannte mich eher in einem Gedicht der Lasker-Schüler, aber das war ja Expressionismus, untergegangen mit all dem anderen. Und wie war das, bitte, mit diesem Untergang gewesen? Das konnte doch gar kein Untergang gewesen sein. Was war denn untergegangen? Der Staat war da, die Politik war da, die Kirche war da. Das Geschäft blühte, die Polizei blühte, die Wissenschaft blühte. Auf den Trümmerplätzen waren jetzt Terrassencafes, und nicht die Dichter berührten das Blau des Himmels, sondern die Flugzeuge und Wolkenkratzer. Die Mörder saßen mit den Opfern am Tisch. Tranken sie Brüderschaft? In den Terrassencafés saßen wirkliche Juden und machten wirkliche Geschäfte. Nach Auschwitz sollte es keine Gedichte mehr geben. Geschäfte waren keine Gedichte. Sie machten weiter, wie alles weitermachte, außer den Toten. Aber die machten ja auch weiter. Im Himmel. Nicht wahr? Was ist denn wahr, wenn das wahr sein soll? Ich suchte nach Antworten in der Literatur. Ich fand manches Buch, das mich weiterführte. Keines von ihnen war nach 1945 auf deutsch geschrieben worden. So kam es, dass ich damals viel unterwegs war. In Amerika. In Rußland. Im Orient. An manchem Rio Finale und in vielen Cafes Nirwana. Und hockte derweilen in einer winzigen Bude in einer deutschen Stadt und schrieb mein erstes Buch. Es ist in einer Sprache geschrieben, die ich heute dechiffrieren muß wie einen Code. Eine Geheimsprache. Die Sprache, die einer schreibt, wenn er auf gefährliche Art allein ist. Und rings um sich nur das Rattern der Zementmischer und das Röhren der Hochöfen und das Gebrüll der Slogans hört. Eine interessante Zeit. Und ich war wie mein Land, ich machte weiter. Und lernte die Landessprache.
Seitdem sind einige Jahre vergangen, fast ein Jahrzehnt. Ich bin älter geworden, aber mein Land ist noch älter geworden. Eine junge Generation wächst auf, die so alt wirkt, als hätte sie ihre Zukunft schon verbraucht.
Auschwitz ist etwas, das es mal im Fernsehen gab. Wenn man mit Plutonium und Entsorgungslage und Neutronenbombe lesen lernt, kann das wohl nicht anders sein. Ein kleiner Junge gibt auf die Frage, was er mal werden will, keine Antwort, er sagt nur: "Dann leb ich ja doch nicht mehr." So ist das. Er weiß nicht, was Hunger oder Seuche oder Krieg ist, aber er glaubt, dass er keine Chance hat. Er lebt eben mit Brennstäben, Zwischenlagern, Mehrzweckwaffen, es hört sich an wie das neue Wörterbuch des alten Unmenschen. Dabei bringt das Fernsehen als Identifikationsbild der einzelnen ARD-Sender doch so drollige Robben, niedliche Vögel, Fachwerkhäuser oder auch Pferde im Morgentau. Und die Grüne Kraft webt wirklich Freude um die gestreßten Herzen des Mittelstands. Auch Schriftsteller machen mit beim Indianerspiel, gewiß. Wenn der Atomblitz zuckt, soll man dann unter Linden sich finden oder die Buchen suchen? Darauf antwortet dem Ratsuchenden schon mancher, der eben noch "kritische Literatur" anbot. Warum auch nicht? Am Anfang war das Wort, und dann kam schon die Meinung. Keine Sorge, ich bin noch beim Thema. Denn es gibt auch ganz anderes. Damen und Herren, ich zeige Ihnen ein Buch an, das der Literatur der siebziger Jahre zum Finale ein unverhofftes Glanzlicht setzt: Karl Günther Hufnagels Roman Die Liebe wird nicht geliebt.
Hufnagel, gebürtiger Münchner aus fränkischer Beamtenfamilie, gelernter Psychologe, debütierte 1960 mit dem Roman Die Parasitenprovinz. 1961 erschien ein Band Erzählungen, dann - 18 Jahre kein Buch. Was war geschehen? Fiel dem Mann nichts mehr ein? Aber er hat in dieser Zeit mehr als 50 Hörspiele, zahlreiche Funkerzählungen, mehrere Fernsehspiele und Filmtexte (unter anderm für Ottomar Domnik ohne Datum) geschrieben. Nein, es war wohl eher so, dass Hufnagel, der sich zur funktionstüchtigen Betriebsstütze so wenig eignet wie ein Alpengletscher zum Zahnstocher, sich den üblichen Anpassungsmechanismen des damals ja noch ganz rigiden Literaturbetriebs entzog. Da war dann wohl ein Talent, das sich weigerte, zuverlässig zu sein, ganz schnell weg vom Fenster. Und blieb weg. Hufnagel schrieb Die Liebe wird nicht geliebt 1973/74. Das Buch ist erst jetzt erschienen, nachdem der Residenz Verlag den dritten Roman, Draußen im Tag, thematisch eng mit der Liebe verbunden, aber griffiger geschrieben und leichter zu lesen, im Frühjahr '79 herausbrachte. Die Liebe ... ist aber nicht bei Residenz erschienen, sondern, um das Verwirrspiel, das unser Verlagswesen mit diesem Autor und seinen Lesern treibt, komplett zu machen, in der neuen Taschenbuchreihe "Rogner's Edition" bei Ullstein. Daß es überhaupt noch erschienen ist, mag schon bald wie ein Wunder in der Art sein, wie sie, vorwiegend in Bayern, manchmal noch geschehen.
Gleichviel: dieser Roman macht vom Titel bis zum letzten Satz wahr, was Grombrowicz von der ernsten Literatur forderte. Wenn wir denn von ihr mehr erwarten als von Unterhaltungsbranche und Lebenshilfe, dann müssen wir uns dieser Erschwernis unsrer Existenz nicht nur stellen, wir müssen uns ihr nähern wie Franz von Assisi dem Aussätzigen: "Aber siehe, nun stieg er, sich Gewalt antuend, vom Pferde, reichte jenem einen Gulden und küßte ihm die Hand. Auch jener gab ihm den Kuß des Friedens."
Das Leben des Heiligen Franz, jenes frommen Eiferers, der sagte: "Die Liebe wird nicht geliebt", und sich vor den Aussätzigen demütigte, vor den Erniedrigten erniedrigte, um vielleicht so die volle Schmach der nicht geliebten Liebe zu erfahren, seine Biographie zieht sich - in Zitaten aus einem Legendenbuch - durch Hufnagels Roman wie eine blutige Spur. Denn Erniedrigung bedeutet Blut. Das erlebt der Erzähler, ein Mann in mittleren Jahren, Teilhaber eines Architektenbüros, Familie, dem der Zusammenhang mit dem Vertrauten, vor allem mit dem Ich, immer entschiedener entgleitet, der also, klinisch gesprochen, wahnsinnig wird, auf seinem Leidensweg nach unten. Erniedrigung bedeutet Blut, Blut aber bedeutet noch keineswegs Verzeihung, Sühne, Gnade. Niemand sollte denken, dies sei ein christliches Buch. Hufnagel ist Schriftsteller, kein Seelentröster. Das Christliche ist, wie das Faschistische in uns allen, Teil der Grundierung des Romans, wie die Stadt München, in der er spielt, die aber auch für alle deutschen Städte steht, wie ihre Bewohner für alle Deutschen. Ich habe lange keinen Roman mehr gelesen, der so deutsch ist - deutsch in dem Sinn, dass Erniedrigung und Lebensverachtung, Schuld und Sühne für immer deutsche Themen geworden sind. Dass überhaupt ein Schriftsteller jetzt wieder auf solchen Stoff kommt, erstaunt, denn gefragt ist ja ganz andres. Mehr noch erstaunt aber sein Stil.
Hufnagel hat nämlich überhaupt nichts zu tun mit den Autoren, die mich damals zum Gähnen brachten. Seine Welt ist unsre Welt. Wohl weil er alles andere als einer jener breittretenden "Realisten" ist, die uns ihr Püree als Realität verkaufen, hat sein Roman einen inneren Wahrheitsgehalt, der viel mehr als "Realismus" ist. Oder kennen wir nicht Wirtshäuser in Deutschland wie dieses:
"Der Wirt hat sich auf seine Theke gelegt und sich erschossen. Die Gäste stehen darum, haben Messer ergriffen und bedienen sich von ihm, sie sagen: 'Der Krieg ist aus, jetzt zahlen wir nicht mehr.' Mit den Happen gehen sie zu den Tischen zurück, hocken sich hin, während das Blut des Wirts in die Spüle rinnt ... Als nur mehr Blut auf der Theke geblieben ist, hat sich's ausgefressen, es gibt aber noch einen Rest Bier, der ausreicht für den Rausch vorm Auskotzen, da liegen sie in ihrem Auswurf, klagen, sie hätten den Wirt immer schon fressen wollen, nur sei er eben der Wirt gewesen, auch hätten sie sich nicht an den Gedanken gewöhnen mögen, dass mit einem die Gäste vom Wirt zehren könnten und nicht, wie üblich, umgekehrt, so jammern sie, bis die Anwohner reinkommen, ihnen hochzuhelfen, nicht aus Mitleid, des Gestanks wegen, der seitdem die Straßen verschmiert, in denen er schon jeweils stockte, wenn sie durchliefen in ihren Stiefeln. Jesus aber betritt Jerusalem. Betrachte ihn, meine Seele ..."
Als er schon weit nach unten geraten ist auf seinem Weg, trifft der Erzähler ein Mädchen, das ihm zu Willen war, seine Liebe:
"'Ich wollte mehr sein', sage ich. 'Aber ich bin nur ein Trinker geworden.'
Sie meint: 'Du mußt mich nur genug lieben.'
'Tue ich das nicht?'
'Ich habe mit deiner Frau gesprochen. Sie sagt, dass du krank bist. Aber das stimmt nicht.'
'Ich verzichte nicht auf dich', sage ich. 'Ich bin Jesus, aber ich töte, statt selbst getötet zu werden.'"
Buße, Opfer, Rache - ein Schriftsteller, der nicht in Gombrowicz' Sinne ein ernster Schriftsteller ist, wäre diesem Stoff nicht gewachsen. Dass Hufnagels Roman von Seite zu Seite gewinnt, liegt neben der moralischen auch an der künstlerischen Autorität des Verfassers. Wie genau die Schilderungen auch der alltäglichen Mühsal, aus der das Leben zum größten Teil besteht, dieses Aufstehen, Sprechen, Ankleiden, Ausgehen, Schauen, Trinken, Zubereiten, dieses Anfassen, Eindringen, Abwehren, Weggehen, dieses Weiterreden, Weiterdenken, Weitergehen. Wie eindringlich die Beobachtungen der Dinge um uns, die scheinbar von uns für uns gemacht und von uns abhängig und überhaupt "tot" sind, und doch, blickt man nur richtig hin, ein bedrohliches (und vielleicht auch sinnvolles) Leben enthalten, ob es nun ein Tapetenmuster, eine Hausnummer, ein Schanktisch ist. Aber das ist nie surreal geschildert, immer voller Wirklichkeit. Denn ein Maßkrug ist ja auch gefährlicher als alle Chimären Dalis.
Und immer weiß der Leser, woher dieser Erzähler kommt: Aus Bayern, wo die Wirklichkeit, aber auch der Wahn noch leibhaftig sind; aus Deutschland, wo das Fortbestehen Pflicht ist; aus dieser Welt, vor der uns nichts hilft; aus diesem Leben, das nur zum Tod führt. Die Liebe wird nicht geliebt ist eines jener Bücher, die uns nicht vom Leben ablenken, sondern zu ihm bringen, unter dem Blau des Himmels, an den dunklen Ort, wo aus den Kadavern auch die Rosen wachsen.
(1979)